#21für21:10 Christine Wunnicke | Die Dame mit der bemalten Hand

01.07.2021

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Berenberg Verlag, Berlin 2020. eISBN 978-3-946334-83-5.

Mit dem Titel ihres Romans hat mich Christine Wunnicke direkt mal auf die falsche Spur gebracht. Es geht gar nicht um die Henna-Nacht, wie ich dachte. Also die Nacht vor der Hochzeit, in der sich im islamischen Kulturkreis Frauen treffen, um unter Volksliedersingen der Braut die Hände mit Hennapaste zu schmücken.

Die Dame mit der bemalten Hand ist das Sternbild, das die alten Griechen Kassiopeia nannten. Im Roman bricht ein Streit unter Wissenschaftlern darüber aus. Der eine eine (Okzident) sieht darin eine ganze Dame, der andere (Orient) nur deren Hand. Aber dazu später mehr, zuerst mal zu den Fakten.

Im Jahr 1761 begann der aus dem Bremischen stammende Naturwissenschaftler Carsten Niebuhr eine vom dänischen König beauftragte und finanzierte orientalische Expedition zur Erforschung Arabiens. Der Anstoß hierzu ging von Göttingen aus, wo zu der Zeit der bedeutende Bibelwissenschaftler und Orientalist Johann David Michaelis forschte und lehrte.

An der beschwerlichen und gefährlichen Reise nahmen außer Niebuhr noch ein dänischer Philologe, ein Arzt, ein schwedischer Naturforscher und Linnéschüler, ein Maler und Kupferstecher und ein ehemaliger schwedischer Dragoner als Diener teil. Dieser wird in den einschlägigen Berichten gerne unterschlagen, sogar von Niebuhr selbst.

Als Niebuhr sieben Jahre später (und praktisch von der Welt vergessen) von der Fahrt zurückkehrt, ist er von diesen der einzige Überlebende.

Gefährliche Krankheiten, wie die Malaria, aber auch Überfälle und Plünderungen hatten der Gruppe stark zugesetzt. Trotzdem darf diese Expedition als wissenschaftlich reicher Erfolg unter dem Vorzeichen der Aufklärung gewertet werden.

Christine Wunnickes Geschichte findet 1764 statt, zu dem Zeitpunkt, als die Reisegefährten Niebuhrs bereits von Tropenkrankheiten hingerafft wurden. Die Leserin findet Carsten Niebuhr selbst in erbärmlichem Zustand auf der Insel Gharapuri vor, die heute Elephanta heißt und die Niebuhr auch schon so bezeichnet hat. Sie liegt ungefähr 10 km östlich von Mumbai. Es wohnen keine Elefanten auf ihr, sie hat auch keine Elefantenform, stattdessen wimmelt es dort von Schlangen und Ziegen. Die Portugiesen hatten sie nach einer steinernen Elefantenstatue benannt, die sie im Hafen vorgefunden hatten.

Genau dort strandet wegen Flaute, und das ist eine Erfindung von Wunnicke, ein weiterer Forschungsreisender, der persische Astrolabienbauer Meister Musa al-Lahuri auf seiner Reise nach Mekka. Ein Astrolabium ist ein Sternhöhenmesser, also ein astronomisches Instrument, mit dem man ermitteln kann, wann welches Sternzeichen am Himmel zu sehen ist.

Dieser Musa hält Niebuhr fortan durch das Erzählen von Geschichten am Leben. Und je lebendiger der junge Deutsche unter den Geschichten wird, desto schöner fangen beide Experten an, miteinander zu streiten. Über Sternenbilder, über Mathematik, über das Beurteilen, das Messen und das Rechnen.

Diese Robinsonade ist so ganz anders gestrickt, als die Leserin es gewohnt ist. Hier treffen nicht ein Gebildeter und ein Naturkind aufeinander, sondern zwei gleichrangig Gelehrte, deren Unterschiede nur in ihren Traditionen zu finden sind:

Wir glotzen alle in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.

"Glotzen" ist kein schönes Wort, rügte Musa.

Ich meine "glotzen"! Ich meine hilflos, blöd und hoffnungslos schauen! Ich meine "Affen des Mundes zu Markte tragen!" Wir glotzen nach oben und erfinden große Gestalten und hängen sie in den Himmel. Ich eine Frau und du eine Hand und was weiß ich, was andere sehen. Und dann gibt es Streit. Es ist zum Erbarmen".

Köstlich, dieser reine Blick auf die Welt. Erst als die beiden von den Engländern gerettet werden, kehrt er zurück, der Blick des Kolonialismus.

Die beiden Diskutanten müssen sich des Arabischen bedienen, um miteinander ins Gespräch kommen zu können. Diese Form der Sprache kommt sehr blumig daher, so ist es mitunter gar nicht so einfach, überhaupt zu verstehen, worüber geredet wird.

Bis zum Schluss blieb mir auch unklar, ob sich hier tatsächlich zwei getroffen haben - oder ob wir es in Wirklichkeit mit dem Fiebertraum eines mit großzügigem Geist ausgestatteten Gelehrten zu tun haben. Außerhalb von Elephanta zeigt Wunnicke ihren Niebuhr nämlich eher schweigsam, vielleicht sogar einem Asperger-Autisten nicht unähnlich.

Ich glaube, dass dieses Romanprojekt als großer wissenschaftlicher Spaß zu verstehen ist, auch als Satire auf den Wissenschaftsbetrieb.

Es wird berichtet, dass im realen Leben Johann David Michaelis den heimgekehrten Niebuhr weder begrüßte noch jemals aufsuchte, ihm schon gar nicht zum großen Erfolg gratulierte. Das mag damit zu tun haben, dass Niebuhr sich ausführlich zu Wassermaschinen, Mühlen, Ölpressen, Ackergeräten, Musikinstrumenten und Kopfbedeckungen des Orients äußerte. Er brachte Abschriften von Keilschrift und Hieroglyphen mit und half so, diese zu entziffern. Er fertigte zuverlässige Karten vom Roten Meer und dem Jemen an. Die Fragen, deren Antworten aber Michaelis interessiert hätten, beantwortete er nicht. Bis heute ist deshalb leider ungeklärt, wo genau die Israeliten das Rote Meer überquert hatten, ob die Araber seltener Zahnschmerzen haben als die Europäer oder ob es einen Unterschied gibt zwischen biblischem und arabischem Durchfall.

Dies ist kein Roman, den man nebenbei lesen könnte. Er erfordert einige Konzentration. Gleichzeitig aber macht er Spaß und sei all denen ans Herz gelegt, die Wissenschafts- und Campusromane mögen.

Von mir gibt es 5 goldene Astrolabien.


Wen es interessiert: Bei "Die Andere Bibliothek" gibt es den Folioband: 

Carsten Niebuhr: Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern. Mit einem Vorwort von Frank Trende.

käuflich zu erwerben.

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