#21für21:6 Thomas Hettche | Herzfaden

21.04.2021

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Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. ISBN 978 -3-462 -32106-7. 

Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste.

Zuerst dachte ich, wie schade, hier geht es gar nicht so zauberhaft zu, wie auf der Pfaueninsel an der Havel; in der Geschichte des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie aus dem 19. Jahrhundert, die Thomas Hettche vor ein paar Jahren ersonnen hatte - und mit der er es auf die Shortlist zum Buchpreis schaffte.

Aber als ich mit dem aktuellen Roman durch war, wusste ich: Das ist alles gut so und genau richtig.

Wer fällt mir nicht alles spontan ein, wenn ich an die Augsburger Puppenkiste denke: Kasperl, Seppel und der Räuber Hotzenplotz, die Truppe um Prof. Habakuk Tibatong, die das Waisenurmel so liebevoll-kratzbürstig aufnimmt, der kleine König Kalle Wirsch, der gegen Zoppo Trump kämpfen muss, den Anführer der Trumpe (ja, tatsächlich!), Jim Knopf und Lukas mit dem Scheinriesen und dem voll-autoritären Lehrerdrachen Frau Mahlzahn, der Kinder aus der ganzen Welt gefangen hält und sie mit Mathematik quält. "Eine Insel mit zwei Bergen", der Ohrwurm sitzt.

Was mir aber erst mal einer erzählen musste, war die Geschichte der Augsburger Puppenkiste -  und die war gar nicht immerzu zauberhaft.

Der Schauspieler Walter Oehmichen, später Erfinder und Erbauer der Augsburger Puppenkiste, war im Jahr 1931 Oberspielleiter des Augsburger Stadttheaters geworden. Als solcher war in der neuen Bundesrepublik für ihn eine Entnazifizierung und Rückkehr in den Beruf unmöglich, obwohl er auch Stücke auf die Bühne gebracht hatte, die eigentlich verboten waren.

Hatte er im Krieg und im Lazarett schon die Kameraden mit selbstgebastelten Puppen unterhalten, die Familie sowieso - und auch kranke Kinder im Hospital mit seinem "Puppenschrein" aufgemuntert, war nach der Bombennacht im Februar 1944 in Augsburg nur kurzzeitig Schluss.  Aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, machte er ab 1945 Nägel mit Köpfen (oder Köpfe mit Nägeln) - und das Puppenspiel zu seinem Beruf. 

Er dachte sich eine transportable Bühne aus, die zusammengepackt und mitgenommen werden konnte. Die ganze Familie half mit. Die Ehefrau Rose nähte die kleinen Kostüme, die Tochter Hannelore, genannt Hatü, schnitzte wie er Puppen, die ganze Familie Oehmichen, auch die Tochter Ulla, schenkte ihnen ihre Stimmen.

Der Herzfaden?, fragt Hatü? Der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht.

Hatü, die spätere Hannelore Marschall, hatte stets ein spezielles Verhältnis zu ihren Puppen. Mehr als 6.000 hat sie in ihrem Leben hergestellt. Und mit Herzfaden setzt Hettche ihr ein Denkmal. 

Was ist ihr Problem mit dem Kasper, den sie während des Krieges schnitzte? 

Auch Künstlerinnen und Autoren sind bei allem guten Willen nicht gefeit davor, falsche und gefährliche Klischees, die zu ihren Zeiten nicht als solche erkannt wurden, zu verbreiten. So sagt Hatü:

Mir war peinlich, dass ich als Kind einen Kopf geschnitzt hatte, der genau aussah wie die furchtbaren Bilder der Juden, die die Nazis überall zeigten. Und dass ich vor einem solchen Zerrbild Angst hatte. Denn das bedeutet, ich bin überhaupt nicht besser gewesen als sie.

So ähnlich könnte das auch Michael Ende sagen, der im Roman ebenfalls eine kleine Rolle spielt, und dessen Idee mit dem  schwarzen Jim Knopf, der dem von Ruß geschwärzten Lukas zugestellt wird, heute die Eltern entzweit. Schwarzer Held - oder rassistisches Klischee? Den Kindern vorlesen? Oder lieber nicht?

In Hettches Roman erzählt Michael Ende eine ganz andere Geschichte über Zumutungen für Kinder:

Ich habe einmal einen russischen Puppenspieler gekannt, der im KZ gewesen ist. Der hat mir erzählt, er habe dort aus winzigen Restchen von Kartoffelteig kleine Fingerpuppen geformt, mit denen er vor den Kindern, wenn keine Wächter in der Nähe waren, Märchen gespielt habe. Das brachte die Kinder zum Lachen. Aber es spielte Ihnen auch ihr eigenes Schicksal vor, sogar ihren Tod.

Der Mensch trägt, wie der Kasper, in sich den Himmel und die Hölle, deshalb ist es so wichtig, was der Storch im Roman sagt

Aber wiederum andererseits gehört Mut dazu, den Blödsinn, den man angerichtet hat, wieder zu korrigieren.

Thomas Hettche hat seinen Roman selbst als Marionettenspiel konzipiert, dazu eine Rahmengeschichte erfunden. In der lockt ein Mädchen mit seinem iPhone den Kasper an - und verjagt ihn auch wieder. Das ist einerseits traurig - und das ist andererseits gut so.

Unbedingte Leseempfehlung für alle, die sich von den legendären "Stars an Fäden" aus der Kiste noch immer faszinieren lassen. 


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