Antonio und die Banditen

19.02.2020


Die Banditen und die Legenden, die sich um sie ranken,  gehörten unendlich lange Zeit wohl zu Sardinien wie die Schafe und die Ziegen. Diebstähle, Viehräuberei - und Schuldige, die ihre Spuren geschickt verwischen, das ist das Material, aus dem sich bei der kleinen Cosima die Phantasie entwickelt:

Räuberische Abenteuergeschichten, die dann Blüten trieben wie Geschichten von mittelalterlichen Raub- und Kriegszügen im engeren und weiteren Umkreis.

Darüber weiß sie schon immer alles. Und dies führte zu einer bestimmten Haltung:

(...) die Mädchen, selbst so kleine wie Cosima, fühlten sich bereits wie Amazonen.

Heutzutage die Begriffe "Banditen" und "Nuoro" in eine Suchmaschine einzugeben, ergibt unendlich viele Treffer, führt einen dann z.B. zu einem Spiegeleintrag von Dezember 1967:

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46209586.html

Wie einst Giuliano auf Sizilien wird jetzt Mesina auf Sardinien von seinen Landsleuten beschützt. In Spottliedern auf die Polizei besingt Sardiniens Jugend seine Heldentaten ("Nie sollen sie dich bekommen"). Jede Woche treffen bei Mesinas Angehörigen 30 bis 50 Briefe für ihn ein -- größtenteils von Verehrerinnen.

Um Graziano Mesina zu fangen, sind in der sardinischen Provinz Nuoro 3000 Carabinieri und "Blaumützen" (Spezialeinheiten für die Bandenbekämpfung) eingesetzt. Mindestens einmal pro Woche durchkämmen sie in Grollrazzien ganze Dörfer und Stadtteile Haus für Haus.

Dem flüchtigen Banditen und seinen Kumpanen schreibt die Polizei einen großen Teil der Verbrechen zu, die auf Sardinien, und speziell in der Provinz Nuoro begangen werden: seit Beginn des Jahres 28 Morde, 20 Mordversuche, 16 Entführungen und 22 Raubüberfälle. Sieben Polizisten fielen im Kampf mit den Räubern.

Graziano hat gelobt, daß man ihn nur tot bekommen werde. Fünfmal brach er aus Polizeigefängnissen und Zuchthäusern aus. Allein im August kämpfte er sich dreimal den Weg mit Handgranaten frei, nachdem die Polizei ihn schon umzingelt hatte.

Sein Steckbrief hängt an allen Straßenecken Sardiniens. Doch Graziano trifft sich regelmäßig mit seinem Anwalt und seiner Braut. In Cagliaris Großkaufhaus Rinascente kaufte er Socken und Unterwäsche ein. In Nuoro spazierte er am Sonntagvormittag an der Carabinieri-Kaserne vorbei.

Von seinen Landsleuten hat Mesina trotz der hohen Belohnung kaum etwas zu fürchten. "Bei uns verweigert ihm niemand ein Stück Brot", sagte sein Bruder Piedro. "Alle hier wissen. daß Graziano ein braver Junge ist, der schuldlos zum Banditen wurde."

In Cosima, 1937 veröffentlicht,  berichtet Grazia Deledda das genau so:

Zu dieser Zeit machte vor allem eine Bande schwerbewaffneter Männer, die zu allem entschlossen waren, unsere Gegend unsicher. Sie waren gedeckt, sei es aus Freundschaft, Komplizenschaft oder einfach nur aus Angst, durch ein weitreichendes Netz von Mitwissern.

Und das sind keine Verbrecherchen, diese Leute schreckten wirklich vor nichts zurück und holten sich, was sie brauchten. Und waren damit sehr erfolgreich:

Sie besaßen Ländereien, Häuser, Vieh und hatten Knechte und Hirten.

Nun gibt es im Roman Cosima diesen etwas eigenartig unwirklichen Vater - Signor Antonio. Der ist jetzt nicht eine Art Respektsperson, wie man das vielleicht erwarten würde, sondern

(...) war der sanftmütigste und gerechteste Mann der ganzen Gegend: doch er war zu sehr in Anspruch genommen von seinen Geschäften und beherrscht von dem Wunsch, den Kindern einen soliden Wohlstand zu sichern.

Etwas später im Text wird das wieder - nun, sagen wir - relativiert:

Im übrigen war er ein sehr gebildeter Mensch, eigentlich ein Dichter. Er hatte das studiert, was man damals Rhetorik nannte, und er hatte ein Diplom als Prokurator erworben. Diesen noblen Beruf übte er aber, ehrlich gesagt, nie aus. (...) 

Der Handel hatte ihn beinahe reich gemacht. Aber als echter Humanist ging er weiter der Dichtkunst nach: Er verfasste Mundartgedichte, aber in einer Form, die sich dem Italienischen annäherte. Begabt war er auch als Stegreifdichter (...).

Geniale Einfälle hatte er auch als Grundbesitzer und als Landwirt. Er versuchte, Zitronen- und Apfelsinenbäume anzupflanzen, Gerbersträucher und Rüben: doch der karge steinige Boden, nach langer Trockenzeit ausgedörrt, machte seine Versuche zunichte.

Er richtete auch eine kleine Druckerei ein und druckte auf eigene Kosten eine Zeitung mit seinen Versen und denen seiner Freunde. Auch das ohne den geringsten Erfolg.

Anwaltsdiplom? Großgrundbesitzer? Wohlhabendes Elternhaus? Selfpublisher? Stegreifdichter? Was denn nun?

Ich habe keine Ahnung. 

Der 1. Weltkrieg hatte in Italien insgesamt zu starken Verwerfungen geführt. Von der starken Inflation war ja im Zusammenhang mit dem Omnibus schon zu lesen. 

Offenbar ist auf Sardinien alles gleichzeitig möglich oder aber alles nacheinander. Oder manches ist einfach gut erfunden, weil mit Witz erzählt.

Wenn wohlhabend zu sein bedeutet, genug zu essen zu haben, dann stimmt das wohl wenigstens für die Kindheit der kleinen Cosima aus dem Roman:

Ganze Berge von Weizen, Gerste, Mandeln, und Kartoffeln lagen in den Ecken, während ein langer Tisch überladen war mit Speck und Würsten, und um ihn herum standen Binsenkörbe mit Saubohnen, weißen Bohnen, Linsen und Erbsen, daneben Schmalztöpfe, Konserven, getrocknete und eingesalzene Tomaten.

Und in diesem Sinne reich zu sein, lockt dann auch die Banditen an:

Zuerst steht ein Mädchen vor der Türe des Hauses von Signor Antonio und spricht:

Sie besitzen auf dem Monte Otobene einen Steineichenwald, den sie jedes Jahr wegen den Eicheln an Schweinehirten verpachten. Im kommenden Herbst hätten wir den gerne für uns gepachtet. (...)

Euer Gnaden wissen, wer meine Brüder sind. Es sind die Brüder *** Die Banditen.

Der Rhetoriker lächelt das erstmal weg:

Selbst wenn es die sieben Märchenbrüder wären, die Banditen, die ihre Namen sogar den Bergen gaben, ich breche mein Wort nicht gegen Elias Porcu. Und damit basta!

In der selben Nacht steht dann noch ein Banditenunterhändler vor ihm: in Gestalt eines hünenhaften Bruders der Banditen. Das Herz rutscht dem Stegreifdichter entsprechend  in die Hose:

Der bringt mich heute Nacht noch um, denkt sich Signor Antonio.

Doch dann quatscht er den Mann nieder, dank des Rhetorik-Studiums, angereichert mit juristischem Wissen und mit väterlicher Weisheit. Er rät ihnen allen, sich zu stellen:

Diese jungen Männer sind wie zwei Steinblöcke, die sich von der Spitze eines Felsens gelöst haben: Sie fallen und reißen dabei andere mit, werden zur Lawine und enden im Abgrund. (...) Ich werde mit den beiden unglückseligen Jungen sprechen, als wäre ich ihr Vater (...).

Es endet so, dass die Jungs zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt werden. Der Hüne wird Schweinehirt bei Signor Antonio und gilt fortan als

einer der treusten und anhänglichsten Untergebenen.

Und er wird einmal seinem neuen Herrn beichten, dass er damals  in der Nacht eigentlich gekommen war, um ihn zu töten.

Ein Hoch auf die Dichtkunst! 

Grazia Deledda ist Sardin im Herzen - aber jetzt bürgerliche und ehrenhafte Römerin, wenn sie Romane schreibt. 

Was das nun über den wahren, sprich autobiographischen Anteil von "Cosima" aussagt, ist nicht zu beantworten.


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