Das Geheimnis | Der Brief

01.02.2020


Gegen den Wissenshunger:

Auf der Website des Mainzer Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte finden sich Daten zur Auswanderung aus Italien, Ende des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Das hilft z.B. beim Verständnis eines Briefes, den Ghiana von ihrem Mann erhalten hat - aus Australien:

https://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/arbeitsmigration-wirtschaftsmigration/irial-glynn-emigration-ueber-den-atlantik-iren-italiener-und-schweden-im-vergleich-1800-1950

Zusammengefasst:

Die Industrialisierung begann in Norditalien gegen Ende des 19. Jahrhunderts - lange nachdem die Nachbarländer in diesen Prozess eingetreten waren. Bis die Industrialisierung Süditalien erreichte, dauerte es noch wesentlich länger. Daher besaß Italien einen Überschuss an Einwohnern, die in ländlichen Gemeinden landwirtschaftlich tätig waren. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wuchs Italiens Bevölkerung um mehr als siebeneinhalb Millionen Menschen.

Die Nachfrage überstieg das Angebot, was zu einer zunehmenden Verarmung führte. Da Verdienstmöglichkeiten in Italien begrenzt, anderswo jedoch zunehmend reichlich vorhanden waren, begann am Ende des 19. Jahrhunderts eine Auswanderungsbewegung in großem Umfang. Zwischen 1876 und 1900 verließen mehr als fünf Millionen Italiener ihre Heimat, und die jährlichen Zahlen stiegen bis zum Jahrhundertende stetig an.

Süditaliener neigten (...) dazu, die Reise über den Atlantik anzutreten. Die Länder Amerikas versprachen eine viel exotischere und bereicherndere Erfahrung als das benachbarte Europa. (...). Im Vergleich zu den schwierigen politischen, wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Bedingungen in Italien lockten die Aussichten, der heimischen Armut zu entfliehen.

So also auch Alexander, der Ehemann von Ghiana aus dem Roman "Das Geheimnis"

Es ist nicht klar, ob sie den Brief selbst lesen konnte, oder ob vielleicht der Schwiegervater ihn vorgelesen hat. Zur Erinnerung: Es war zu der Zeit in Italien keine Selbstverständlichkeit, dass Mädchen lesen lernten. In den Quellen findet man den Hinweis, dass die Mutter von Grazia Deledda Analphabetin war.

Jedenfalls trägt Ghiana ihrem Liebhaber den Brief folgendermaßen vor:

Liebe Frau und liebe Eltern,

Ich schicke euch anbei wieder etwas Geld und bringe noch mehr mit, wenn ich im Herbst nach Hause komme. Denn das Jahr ist besonders gut, es fehlt überall an Arbeitskräften, und die Löhne werden immer höher. Niemand will sich hier als Knecht verdingen und die Herren müssen alles selbst besorgen: die jungen Mädchen melken, wenn sie aufstehen, zuerst die Kühe und gehen erst dann zur Schule, in ein entlegenes Dorf, und die Plantagenbesitzer backen sich selbst ihr Brot. Jetzt sind wir gerade mitten in der Zuckerrohrernte. Den ganzen Tag wird nur gemäht und die unermeßlichen Felder verfolgen mich sogar in meine Träume.

Liebe Frau und liebe Eltern, legt das Geld so an, wie ihr es für richtig haltet. Ja, kauft das Haus mit dem Grundstück ruhig zurück, wenn ihr wollt. Und du, liebe Frau, tu bitte alles, was die Alten dir raten.

Und so wird auch klar, warum Christian so unruhig auf die Bautätigkeit auf dem Nachbargrundstück reagiert. Wenn die alten Eigentümer zu Geld kommen, werden sie das Häuschen zurückhaben wollen. Dort auf dem Grundstück steht der Brunnen, der auch ihn mit Wasser versorgt. Alles wird schwieriger werden, unruhiger, lauter.

Davon, dass Ghiana mit dem jetzigen Hausbesitzer ins Bett gehen soll, um ihre Waren besser zu verkaufen, steht in dem Brief auf jeden Fall nichts.


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