Das Geheimnis | Der Misanthrop und die Frauen

02.02.2020


Von Christian, der sich misanthropisch und aus unbekannten Gründen aus der Welt zurückgezogen hat, erfährt man zunächst nur, dass er offensichtlich Ängste hat, die seinen Aufenthaltsort betreffen.

Als er in einem Laden auf ein Schild stößt

Wohnungen und Sommerhäuschen zu vermieten oder zu verkaufen

antwortet er auf die Frage der Verkäuferin

Nun wo möchten sie denn gerne wohnen?

in eine unbestimmte Ferne deutend

Dort hinten bei den Feldern - oder noch weiter weg (...) aber möglichst einsam gelegen und weit, weit weg. 

Die Wachstuchdecke auf seinem Tisch ist mit großen Lettern beschrieben: New York City. Vielleicht so weit weg? Aber einsam?

In seiner kleinen Welt wird es zunächst  lauter und enger. Denn eine Frau mitsamt Wolfshund und  schwerkrankem Ehemann zieht in das mittlerweile fertiggestellte Häuschen auf dem Nachbargrundstück - und bringt noch eine Magd mit. Natürlich kommt es sofort zu ungünstigen Begegnungen zwischen Hund und Kater.

Nun ist Christian also von drei Frauen umgeben, die schon von der äußerlichen Erscheinung her gar nicht unterschiedlicher sein könnten. Und hier zeigt sich, weshalb Grazia Deledda als naturalistische Autorin bezeichnet wird. Sie beschönigt nichts. Es gibt keine magische Welt hinter der Welt. Die Dinge sind, wie sie sind.

Da ist Ghiana, die ihren Mann steht bei den Schwiegereltern, die notfalls ihren Körper einsetzt, um ihre Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen: 

Sie war noch eine ziemlich junge Frau und hatte fast etwas von einem schönen Tier, mit ihren geraden, sehnigen Beinen und ihren breiten, wiegenden Hüften unter dem bauschigen langen dunkelblauen Rock. Aber ihr Leib war weich und biegsam, und der Stoff des roten Mieders schmiegte sich eng an ihren schönen Rücken an, war gleichsam wie verwachsen mit ihm.

Sexy, keine Frage. 

Dann gibt es die Magd oder Dienerin, die die Nachbarsfrau mitgebracht hat:

Eine wohlbeleibte aber flinke kleine Frau mit runden, rosig schimmernden Bäckchen, schwarzen Augensternen und einem kleinen Schnurrbärtchen über dem Mund.

Nun gut.

Und es gibt die neue Nachbarin: eine

weißgekleidete Frau mit Sandalen an den nackten Füßen, wie ein schönes Trugbild (...).

In einer goldenen Wolke von Licht sah Christian die beiden {Hund und Herrin} auf der schimmernden Wiese stehen. Durch das durchsichtige Gewand hindurch sah er die langen, schlanken Beine der Frau, während er sich eingeschüchtert fühlte (...).

Sie war größer als er (...) und die weichen Formen ihres Leibes schimmerten dunkel, wie aus Marmor durch das weiße, dürftige Gewand.

Er sah

(...) dass ihre fein gezeichnete Nase, ihr vorspringendes Kinn und ihre schwellenden Lippen wie aus Stein gemeißelt waren.

Unerreichbar, nicht nur wegen der Körpergröße.

Grazia Deledda versteht es, Spannungen zu erzeugen mit ihren Worten und Beschreibungen. Da fängt die Luft an zu vibrieren, wenn die Menschen aufeinanderstoßen.

Christian ist sonst ja eigentlich nicht schüchtern, wie wir schon wissen. Er pflegt feste Meinungen über Frauen, vor allem wenn er sich über sie ärgert:

Ihm war fast, als wäre Ghiana seine Magd, als hätte sie seinem Befehl getrotzt.

Und über solche Mägde

Er liebte es nicht, wenn Dienstmädchen ihm so vertraulich zulächelten.


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