Deleddas Sehnsuchtsort - durch die Augen von D.H. Lawrence*

16.02.2020

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Ich hab mir dann doch das Reisetagebuch von Lawrence besorgt, es liest sich wirklich flott weg. Was man im Hinterkopf haben sollte, ist dass er in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts als erster Schriftsteller von Rang gilt, der einer Arbeiterfamilie entstammte. Das Problem ist, dass er und Frieda von Richthofen Nuoro an einem Sonntag im Winter erreichen. Sardinien im Winter scheint ihnen insgesamt nicht das ganz große Glück  zu sein. Immerhin können sie aber für die letzten  Kilometer von Oristano bis  Nuoro den Omnibus nehmen.

Sie müssen sich aber erst durchfragen, wie sie das bewerkstelligen können. Ein junger Mann hilft etwas unwillig:

Er erklärte mir, dass es jetzt zwei Omnibusse gebe: ein neuer fuhr über die Berge nach Nuoro. Es sei besser, nach Nuoro als nach Abbasanta zu fahren. Offenbar war Nuoro die Stadt, die man in diesen Dörfern als eine Art Großstadt ansah.

Lawrence beobachtet die Fahrer, die Landschaft, seine Reisegefährt*innen und macht sich seine Gedanken:

Es war ihre Strecke, von Oristano nach Nuoro - eine Entfernung von rund 120 Kilometern. Und das Tag für Tag, hin und her. Kein Wunder, dass das an den Nerven zehrte. Aber er zeigte jene Würde, diesen nachdenklichen Ernst und Stolz eines Mannes, der eine Maschine beherrscht: Das sind die einzigen gottgleichen Wesen unserer Tage, diese Männer an den eisernen Hebeln, die Götter der Maschine.


Man muss zugeben, dass der Omnibus eine große Neuerung ist. Er verkehrt jetzt erst fünf Wochen. Ich wüsste gern, wie lange noch. Die Gesamtstrecke ist so groß, die Bevölkerung so dünn, dass, selbst wenn man die Leidenschaft einbezieht, einmal das eigene Dorf zu verlassen, die das ganze Volk ergriffen hat, der Bus nicht mehr als zwei- dreihundert Franken täglich einbringen kann.


 Im Jahr 1920 waren 100 italienische Lira maximal 42,10 Schweizer Franken wert. Der Durchschnittswert betrug eher 28,91 Franken. Anfang des Jahrhunderts - vor dem 1. Weltkrieg hatte der Kurs noch 1:1 betragen.

Es gibt noch unbekanntes, ungeformtes Land, in dem das Salz seine Kraft noch nicht verlor. Aber man muss sich selbst erst an der großen Vergangenheit vervollkommnet haben. 


Wer reist, der isst. Wir kauten unsere Biskuits, und der alte Bauer in seinen weit ausgebeutelten Kniehosen und dem schwarzen Kürass, mit seinem verwunderten Altmännerlächeln unter seiner alten Strumpfmütze, mochte er auch nur acht oder zehn Kilometer nach Tonara fahren, schälte sich ein hartgekochtes Ei, das er aus seinem Päckchen gekramt hatte. In gelassener Verschwendung ließ er das Eiweiß in den Schalen, wenn es kleben bleiben wollte. Der Bürger von Nuoro (...) ermahnte ihn: Aber was bist du für ein Verschwender. Ha, sagte der alte Bauer mit einer wegwerfenden Handbewegung. Was scherte ihn die Verschwendung, wo er doch eine Reise machte, und das erste Mal in einem Omnibus saß.


Wir wissen ja, dass Grazia Deledda auch nicht viel gereist ist. Außer nach Rom in ihr neues Leben als Ehefrau - nur von Rom aus nach Stockholm, um den Literaturnobelpreis entgegenzunehmen. Das ist kein Vergleich zu Selma Lagerlöf, die mit ihren Freundinnen praktisch permanent unterwegs war.

Mir gegenüber saß ein Bauernmädchen in der Nuoro-Tracht und neben mir ein dunkelbärtiger Mann (...). Ich mochte ihn nicht, das war einer von den Eifersüchtigen, den Nörglern. Sie war auf ihre Weise hübsch, aber sehr wahrscheinlich steckte auch ein kleiner Teufel in ihr.

Wir näherten uns Nuoro. Es war nach drei Uhr am Nachmittag, kalt und trübe. Die Landschaft wirkte öde und steinig, weitläufig, anders als jede, die wir sahen.

Die Stadt (...). Sie lag am Ende der Welt, und hinter ihr erhoben sich die düsteren Berge.

Danach rollen wir in die kalte Hauptstraße von Nuoro hinein. Mir fällt ein, dass Nuoro der Heimatort der Romandichterin Grazia Deledda ist, und ich sehe ein Friseurgeschäft. Deledda. Gott sei Dank waren wir nun am Ende unserer Reise. Vier Uhr vorbei.

Dann steigen sie ab. Sie werden recht unfreundlich behandelt, wahrscheinlich weil Sonntag ist.

Mit einem einheimischen Bauern entspinnt sich in der Schankstube folgender Dialog. Der Bauer:

Gibt es Kaffee?

Nein, es gibt keinen Kaffee.

Warum nicht?

Wir konnten keinen Zucker bekommen.

Hoh! Lacht der Bauer vor seinem Aqua Vitae {klarer Branntwein}. Sie tun Zucker in den Kaffee!

Hier, sagte ich, tun sie nicht einmal Kaffee in den Kaffee.

Gibts Milch?

Nein.

Gar keine Milch?

Nein.

Warum nicht?

Keiner bringt welche.

Doch, doch - wenn sie nur wollen, kriegen sie auch Milch, wirft der Bauer ein. Aber sie sollen eben Aqua Vitae trinken.

(...)

Ich ließ mir jeden Pfennig des Wechselgeldes auszahlen.

Am Montag sieht dann die Welt schon ganz anders aus:

Wir wollten schon wieder fort! Da seien wir aber nicht lange in Nuoro geblieben! Gefiele es uns denn nicht? Doch! Es gefiele uns, wir würden im Sommer noch einmal kommen, wenn es warm sei.

Ja, ja, sagte sie, im Sommer kämen auch die Künstler. Sie fand auch, dass Nuoro schön sei - simpatico - molto simpatico. Das ist es wirklich. Und sie war auch wirklich eine sehr nette, verständige und recht menschliche alte Frau: Dabei hatte ich sie für eine Hexe gehalten, als ich sie bügeln sah.

Vor der Weiterfahrt ist noch Zeit für einen Stadtbummel:

Es herrschte die richtige Montag-Morgen Stimmung einer alten, sich immer gleichen Provinzstadt (...) Die Türen der altmodischen Läden standen weit auf. Schaufenster gibt es in Nuoro noch kaum. Man muss in dunkle Höhlen eintreten, wenn man die Waren sehen will.

Dann kommt das Zitat, das wir schon kennen:

Es gibt in Nuoro nichts zu sehen. Aber das ist in Wirklichkeit ganz erholsam. Sehenswürdigkeiten sind eine ermüdende Sache. Zum Glück hat dieser Ort nicht das geringste von einem Perugino oder Pisani aufzuweisen, soweit ich weiß. Glücklich die Stadt, die nichts zu bieten hat. Das erspart einem eine Menge Scherereien und Getue. Das Leben bleibt Leben und wird nicht zum Museum.

Die Kunst und die Künstler der Renaissance und des Rokoko sind nicht seine Sache. Lawrence und Frieda von Richthofen, die er Bienenkönigin nennt, nehmen noch einmal Platz in einer Schankstube:

Drei Bauern in schwarzweißer Tracht traten ein und setzten sich an den mittleren Tisch. Ihre Strumpfmützen behielten sie auf. Es sah schon merkwürdig aus, wie sie mit dem langsamen, entschiedenen Schritt dieser älteren Männer hereinkamen und sich zurückhaltend setzten; sie schufen eine Atmosphäre von Einsamkeit um sich. Die besondere, uralte Verlassenheit der sardischen Bergwelt haftete an ihnen, etwas Starres, Unbewegliches, Vorzeitiges.

In unserem Teil des Zimmers saßen nur Bürger - Angestellte aller Art - die sich kannten.

Dann geht es im Bus weiter:

Die Landschaft war anders als gestern. Als wir von Nuoro aus durch die Schleifen der flachen Straßen rollten, dehnten sich bald die Hochmoore baumlos, mit Gestrüpp und Felsen bedeckt, kümmerlich zu beiden Seiten. Wie heiß es hier im Sommer werden musste! Wer Grazia Deledda gelesen hat, weiß Bescheid.


Wer jetzt etwas frustriert ist von Nuoro, dem sei gesagt, so schlimm ist das alles nicht mehr. Hier noch ein Link, der zu einem Spaziergang durch Nuoro einlädt - und zwar direkt auf den Spuren der großen Tochter:

https://www.sardegnaturismo.it/de/routen/auf-den-spuren-von-deledda-nuoro




*D.H. Lawrence: Das Meer und Sardinien. Im Original: Sea and Sardinia. Übersetzt von Georg Goyert. Meine Ausgabe ist von Juni 2013.  Erschienen bei red.sign.media.

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