Der Vater*

03.03.2020

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Als Pa noch am Leben gewesen war, hatte er fast nie mit uns gesprochen, und die letzten Worte, die er auf dem Totenbett zu mir gesagt hatte - vielleicht überhaupt seine letzten Worte -, waren verstörend und selbstbezogen gewesen. "Als Junge bin ich viele Male vergewaltigt worden", sagte er. "Habe ich dir das jemals erzählt?"

Der Vater hatte den "Rappel", wie die Mutter sehr lieblos sagt. Die deutlich empfindsamere  Tochter nennt das

Schwarze-Wolken-Krähen-Raben-Dohlen-haufenweise-Särge-metertiefe-Katakomben-zu-ihren-Gräbern-kriechende-Skelette-klappernde-Knochen-Depressionen

Im Irland der 70er Jahre war er beileibe nicht der einzige, der diese schwere Krankheit ertragen musste. So dass sich eine Art Matriarchat entwickeln musste, wie ich dem sehr erhellenden und ebenso lesenswerten Spiegel-Artikel "Nordirland: Dieses ganze Land ist verrückt" von 1972 entnehmen konnte:

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43019507.html

Die Zahl der Arbeitslosen, der Elenden wächst. Denn die Geburtenrate der Katholiken ist doppelt so hoch wie jene der Protestanten. Obwohl sie nur ein Drittel der Bevölkerung stellen, belegen Katholiken 52 Prozent der Plätze in den Volksschulen Nordirlands.

Das System der Unterdrückung scheint perfekt.

Schon der erste Ulsterpremier, Sir James Craig, der von 1921 bis 1940 regierte, hatte formuliert: "Paßt auf die Katholiken auf, paßt auf! Die vermehren sich wie die verdammten Kaninchen."

Die Protestanten passen auf. Die Vermehrung nützt der Minderheit nichts. Die Katholiken, die in ihren schlecht entwickelten Gegenden keine Arbeit finden, bekommen in den protestantischen Industriezentren keine Wohnung -- und dann auch keinen Job.

Die Aussichtslosigkeit hat Folgen: "Aus der Tatsache, daß in katholischen Familien der Vater meist arbeitslos ist". schrieb der "Guardian", "hat sich eine Art matriarchalisches Gesellschaftsmodell entwickelt. Die ursprüngliche natürliche Bedeutung des Familienvaters wurde ausgehöhlt. Er trinkt, geht auf die Straße, wird gewalttätig."**

Oder er versinkt in Depression. Die man natürlich da noch nicht so nannte. "Stimmungen" waren das.

Und die Autorin beschreibt diese Krankheit so unheimlich eindrücklich. Mit all dieser Ausweglosigkeit. Der Nachbarschaft und den Kindern werden Märchen von Reisen des Vaters aufgetischt.

Während er nur noch fürs Bett taugte, fürs Krankenhaus, für seine Comics, für seinen Sportteil oder die Holocaustsendungen im Fernsehen.

Über zu vieles wird nicht gesprochen, nichts ist verarbeitet - und jetzt noch die Last, das alles nicht einfach mit viel Arbeit zuschütten zu können.

Männer und Psychiatrie passten noch weniger gut zusammen als Frauen und Psychiatrie.

* Zitate aus Anna Burns: Milchmann. Tropenverlag 2020.

** Zitate aus "Der Spiegel"

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