Die Mutter trösten ...

26.02.2020


Jetzt könnte Cosima der glücklichste Mensch auf der Welt sein. Endlich ist die Schallmauer durchbrochen. Sie ist das, was sie immer sein wollte: eine Autorin. Es kommen Journalisten, um sie zu interviewen. 

Dann aber belauscht sei ein Gespräch, das ihre Mutter mit dem Ölmüller führt:

Die jungen Mädchen sind doch alles dumme Dinger: aber sie, sie hat sich noch dazu Flausen in den Kopf gesetzt. Diese ganze Schreiberei und überhaupt diese üblen Bücher. 

Sogar Besuch hat sie bekommen, und von was für einem großen ungeschlachten Kerl, rothaarig dazu wie ein Fuchs. Der ist von weit hergekommen, und dann hat er in den Zeitungen über sie geschrieben. Die Leute munkeln natürlich. 

Nein, Cosima wird sich nie wie eine anständige Christin verheiraten können. Und die Schwestern werden darunter zu leiden haben, weil in einer Familie ja alles davon abhängt, wie gut die Erstgeborene verheiratet ist.

Das Gespräch handelt dann auch noch von den Brüdern: der eine Alkoholiker, der andere der Spielsucht verfallen. Auch wenn das lange nicht so schwer wiegt, wie eine Autorin als Tochter zu haben. 

Der Ölmüller, der selbst augenscheinlich nichts besitzt als die Klamotten, die er auf dem Leib trägt (wenn nicht er Cosima verraten hätte, dass sich in seinem Ofen ein - auf welchem Weg auch immer erworbener - Goldschatz befindet), bemüht sich sehr, die Herrin zu trösten. Wirklich, es könnte alles sehr viel schlimmer sein...

Cosima hätte sich am liebsten an die Mauer gedrückt und geweint: in diesem Augenblick hätte sie auf alles, was sie sich bisher erträumt hatte, verzichten können, nur um die Mutter zu trösten. Und sie überlegte, daß sie ihr zumindest den Trost einer Hoffnung auf eine gute Ehe geben könnte (...). In Gedanken ließ sie sämtliche Grundbesitzer, Beamten und alle Angestellten an sich vorüberziehen - doch alle waren von dem Vorurteil beherrscht, daß sie mit ihrer Bücherleidenschaft doch keine gute Ehefrau werden könnte.

Vorerst aber schrieb sie weiter dort am kleinen Fenster, wo die Wespen summten.


Es gibt ja derzeit viele Debatten darüber, ob es wirklich nötig ist, zu unterscheiden, ob eine Frau oder ein Mann ein Buch geschrieben hat. Hauptsache, das Buch ist gut.  Hauptsache, es wird überhaupt gelesen. 

Muss man in den Ankündigungen der Verlage wirklich die Frauen zählen, um zu beweisen, dass sich nicht genügend geändert hat seit dem 18., dem 19. dem 20. Jahrhundert?  Muss man in einem Blog die Literaturnobelpreisträgerinnen wirklich hervorheben?

Gerade die Lektüre der hier in Deutschland fast völlig vergessenen Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda macht mir klar:  Ja, muss man.

Denn hinter der Ablehnung der schreibenden und lesenden Frau versammeln sich ja noch mehr Ablehnungen: Das "Anderssein" wird abgelehnt. Der, die, das "Fremde" wird abgelehnt, "Journalisten" werden abgelehnt, weil sie die helle Lampe auf zu dunkle Ecken richten. Die Diversität wird abgelehnt.

Frauen wurden durch die Jahrhunderte systematisch am Schreiben gehindert. Frauen wurden systematisch am Lesen gehindert. Wenn sie denn lesen durften, dann gaben Männer - gerne auch Kirchenmänner - vor, was gelesen werden durfte: Frauenliteratur!.

Es geht nicht wirklich drum, Frauen den Vorzug zu geben. Männer schreiben auch sehr schöne Bücher, überhaupt keine Frage. Aber es geht um Gerechtigkeit. Es geht um den vollständigen Blick auf die Welt. 

Auch für den Literaturbetrieb 2020 sollte gelten, was die erste Literaturnobelpreisträgerin, Selma Lagerlöf, im Jahr 1905 anstrebte, als sie noch um das Frauenwahlrecht kämpfte:

In vieler Hinsicht haben wir es ja gut, laufen aber ständig Gefahr, einzuknicken, und daher wäre es zu begrüßen, die weibliche Ungeduld, das weibliche Rechtsgefühl, die weibliche Energie und das weibliche Pflichtgefühl auch auf politischem Gebiet zuzulassen.

Der Wunsch meiner Jugend, die selbe Macht wie ein Mann zu erlangen, ist aufs Neue in mir erwacht.



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