Die Oma

19.09.2019

"Gibt es in Ihrer Verwandtschaft Fälle von Rheumatoider Arthritis?" Immer wenn Ärzte diese Frage stellen, sage ich "Nicht bekannt, aber bekannt sind auch nicht der leibliche Vater von meiner Mutter und die leibliche Mutter meines Vaters". Wer bin ich denn eigentlich? Warum habe ich im 21. Jahrhundert Probleme damit, dass mein Körper sich selbst bekämpft?
Hat das vielleicht mit dem Tod meiner Oma zu tun, im gleichen Jahr, wo das Rheuma sich seinen Weg gebahnt hat? "Wir müssen darüber nachdenken", sagt meine Psychotherapeutin. "Wer waren die vor Ihnen, und was war mit denen los?".

Mit meiner Oma? Die hatte am 15. November 1944 ein kleines Mädchen zur Welt gebracht. Da war ihre Familie schon in Unordnung geraten. War schon auf dem Weg weg von Ostpreußen ins westliche Reichsgebiet. Flucht. Vertreibung.
Nur eine ihrer Schwestern war mit 2 Kindern bei ihr geblieben. 14 Tage später kam der Bürgermeister und sagte ihr: "Ihr müsst hier weg. Mit dem Treck." Der sowjetische Vormarsch war seit etwa einem Monat in vollem Gang und die Propaganda vom "Bolschewiken" und auch die Angst vor tatsächlich bekanntgewordenen Grausamkeiten sowjetischer Soldaten an der deutschen Zivilbevölkerung hatte gewaltige Flüchtlingstrecks in Gang gesetzt.

Ihr Mann, mein leiblicher Großvater, war Rittmeister bei der Wehrmacht, ließ zwei Pferde schicken, so dass die Frauen Waren zum Tauschen und Überleben auf dem Pferdekarren mitnehmen konnten. Doch der Winter 1944/45 war eiskalt, mit Temperaturen unter minus 25 Grad, mit viel Schnee und starkem Wind. Die Pferde gingen keinen Schritt und mussten zurückgelassen werden.

So trug die Oma meine Mutter zu Fuß. Der Weg war lang, 200 km allein bis zur Ostsee. Meine Psychologin warf ein, dass genau dieses dem Kind das Leben gerettet haben könnte. So dicht am Leib getragen war es warm. Zu viele Kinder mussten am Straßenrand erfroren zurückgelassen werden. Welche Bilder die Oma da gesehen hat, mag ich mir nicht vorstellen. Sie selbst hat bis ins hohe Alter von 93 Jahren darüber kein Wort verloren. Die Fluchtgeschichte wurde in leisen Erzählungen auf Familienfesten erzählt, sie bleibt ein Familiengeheimnis.

Die Frauen haben für die Flucht kein Schiff genommen, die Schwester der Oma war zu ängstlich. So wurde der Weg nach Brandenburg zu Fuß absolviert, über das zugefrorene Haff und die Frische Nehrung. Die Oma hat dann noch ihren Mann getroffen, dort hat er das erste und einzige Mal meine Mutter sehen können. Er sollte wenig später in Dänemark verwundet werden und im August 1945 dort versterben.
Das weckte die Begehrlichkeiten seiner Eltern an dem Baby meiner Oma. Dort sollte sie bleiben - und helfen, den Schmerz um den verlorenen Sohn zu stillen. Meine Oma hat dem nicht zugestimmt. Ihr war zugetragen worden, dass ihre eigene Familie die Flucht bis nach Niedersachsen geschafft hat. Sie gab das Baby in die Obhut ihrer Schwester, deren eigener Fluchtweg erst in Sachsen zu einem Ende kam und machte sich auf den Weg. Mit einem Schlepper über die grüne Grenze, konnte sie Eltern und Geschwister in die Arme schließen, dann das Kind wieder holen und fortan nicht mehr auf der Flucht sein.

Sie sollte eine Gluckenmutter werden, die auch das erwachsen werdende Kind gerne stets unter Aufsicht hielt. Sie war dominant. Bei auftretenden Schwierigkeiten schob sie ihr Kinn vor - und nahm jede Herausforderung an.

Leider konnte sie nicht gut schreiben, so dass sie ihre Gedanken, Gefühle, Traumata mit ins Grab genommen hat.

Foto: Pixabay

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