Literaturnobelpreis 1993: Toni Morrison

04.08.2020

Vielen Dank für das Foto an Jess Foamie auf Pixabay

Toni Morrison leitete ihre Nobelpreisvorlesung mit einer kleinen Geschichte ein, die heute so aktuell ist, wie sie es auch am 7. Dezember 1993 war und es sein wird, so lange die Menschheit besteht:

Es war einmal eine alte Frau. Blind aber weise. 

 Oder war es ein alter Mann? 

Vielleicht ein Guru. Oder ein Griot {ein westafrikanischer Geschichtenerzähler}, der unruhige Kinder beruhigt?

Ich habe diese oder eine genau ähnliche Geschichte in der Überlieferung mehrerer Kulturen gehört. 

Also: Es war einmal eine alte Frau. Blind. Weise. 

In der Version, die ich kenne, ist die Frau die Tochter von Sklaven. Schwarz, amerikanisch und lebt alleine in einem kleinen Haus außerhalb der Stadt. Ihr Ruf als Weise ist ungebrochen. Unter ihren Leuten steht sie sowohl für das Gesetz als auch für seine Übertretung. 

Die Ehre, die ihr zuteil wird, und die Ehrfurcht vor ihr reichen weit über ihre direkte Nachbarschaft hinaus - bis hin zu entfernten Orten. Sogar bis in die Stadt, in der die Intelligenz der ländlichen Propheten immer wieder für viel Unterhaltung sorgt. 

Eines Tages wird diese Frau von einigen jungen Leuten besucht, die anscheinend darauf aus sind, ihre Hellsichtigkeit zu widerlegen und sie als Betrügerin zu entlarven. 

Ihr Plan ist einfach: Sie betreten ihr Haus und stellen ihr eine Frage, die sie nicht richtig beantworten kann. Weil sie sich in ihrer Blindheit ja von ihnen, den Sehenden unterscheidet. Und weil es sich aus der Sicht der Fragenden bei der Blindheit um eine schwere Behinderung handelt.

Sie stehen also vor ihr, und einer von ihnen sagt: 

Alte Frau, ich halte einen Vogel in der Hand. Sag mir, ob er lebt oder ob er tot ist.

Sie antwortet nicht sofort - und die Frage wird wiederholt. 

Ist der Vogel, den ich halte, lebendig oder tot?

Sie antwortet immer noch nicht. 

Sie ist ja blind und kann ihre Besucher nicht sehen, geschweige denn sehen, was sie in ihren Händen halten. Sie erkennt weder die Hautfarbe noch das Geschlecht oder wo die herkommen, die da fragen. 

Ihr Motiv aber hat sie sofort erkannt. 

Das Schweigen der alten Frau dauert so lang, dass die jungen Leute Schwierigkeiten haben, ihr Lachen zu unterdrücken. 

Schließlich spricht sie und ihre Stimme ist sanft aber streng. 

Ich weiß nicht, sagt sie. Ich weiß nicht, ob der Vogel, den du hältst, tot oder lebendig ist. Aber ich weiß, dass es in deinen Händen liegt.

Bei Toni Morrison geht es immer um Verantwortung. Deshalb erklärt sie die kleine Geschichte auch entsprechend:

Ihre Antwort kann so verstanden werden: Wenn er tot ist, haben sie ihn entweder so gefunden oder sie haben ihn getötet. Wenn er lebt,  können sie ihn immer noch töten. Ob er am Leben bleiben soll oder nicht, ist Ihre Entscheidung. In jedem Fall liegt es in ihrer Verantwortung.

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