Lucila, Neftali und die Literaturnobelpreise

03.05.2020

Im chilenischen Valparaiso gibt es ein Café, in dem ein Tisch dauerhaft besetzt ist. Zwei ältere Herrschaften sitzen dort. Er - eine Pfeife in der linken Hand, ein Buch vor sich - scheint verträumt dem gerade Gelesenen nachzusinnen. Es sind Pablo Neruda und Gabriela Mistral - aus Pappmaché - es sind Pablo Neruda und Gabriela Mistral, die beiden Literaturnobelpreisträger aus Chile. Das Café heißt passend: Café del Poetas.

Zum 125. Geburtstag von Gabriela Mistral - im April 2014 - hatte das Online-Magazin Quetzal ihr einen Artikel gewidmet - und einleitend ihn mit einer Erinnerung zitiert:

Zu jener Zeit kam nach Temuco eine hochgewachsene Dame in langen Kleidern und Schuhen mit niederen Absätzen. Sie war die neue Direktorin der Mädchenschule. Sie kam aus unserer australen (d.i. südlichen) Stadt, von den Schneefeldern an der Magallanes-Straße. Sie hieß Gabriela Mistral. Ich sah sie in ihren Priestergewändern durch die Gassen meines Dorfes gehen und hatte Angst vor ihr.

Der junge Mann konnte sich beruhigen, die Dame war eigentlich ganz lieb, und sie würde in ihm die Liebe zur russischen Literatur wecken, die sein eigenes literarisches Werk später noch stark beeinflussen sollte.

Sie und er - das waren damals noch Lucila de María del Perpetuo Socorro Godoy Alcayaga und Neftali Ricardo Reyes Basoalto.

Die beiden sollten ihre Leben lang noch viel mehr miteinander teilen als die Liebe zum russischen Buch:

Sowohl Mistral als auch Neruda waren besorgt um ihre Gesellschaft und verwickelten sich mit den Staatenlenkern in politische Streitigkeiten. Beide kämpften für die Rechte der Entrechteten der chilenischen Gesellschaft und bemühten sich, ihre Dichterkraft als Waffe einzusetzen, um auch das Gewissen der Welt zu erreichen. Sie teilten auch das selbe unglückliche Ende, jeweils auf tragische Weise an Krebs zu sterben.

Dass sie beide Chile zum Land der Dichter gemacht hatten, führte übrigens im letzten Jahr dazu, dass die Namensänderung von Chiles internationalem Flughafen endgültig scheiterte. Er hieß und heißt nach Arturo Merino Benitez, einem berühmten Militär im Rang  eines Commodore, Begründer sowohl der chilenischen Luftwaffe als auch der nationalen Fluggesellschaft - und sollte seit 2014 umbenannt werden in Pablo Neruda Airport. Davon wollten aber die chilenischen Feministinnen, davon wollte die junge selbstbewusste queere Szene in Chile nichts wissen. Neruda hatte in seinen Memoiren die hässliche Szene geschildert, wie er als Diplomat im damaligen Ceylon ein Hausmädchen vergewaltigt hat. Lange Zeit war das so hingenommen worden, konnte dem Nimbus des Dichters nichts anhaben. Im Rahmen der Me-Too-Bewegung war damit Schluss. Gar nichts sollte mehr nach einem Vergewaltiger benannt  werden.

Zum Ausgleich für alle Unterdrückten und Gequälten sollte der Flughafen - quasi als Geschenk zum 130. Geburtstag - zukünftig den Namen von Gabriela Mistral tragen, der großen Dichterin, Pädagogin, Philantropin - und vor allem Frau und möglicherweise neu entdeckten Lesbe. Wahrlich eine echte Nachfolgerin von Selma Lagerlöf und ein genialer Kompromissvorschlag.

Doch eine solche Einigung konnte im katholischen Land nicht herbeigeführt werden. Die Regierung ließ schließlich verlauten, eine Umbenennung käme das Land insgesamt zu teuer. Projekt gestrichen.

Dass das überhaupt so diskutiert werden konnte, kommt im Fall von Gabriela  bzw. Lucila einem Wunder gleich.

Der Vater, zwar ein Volksschullehrer und Gedichteausdemärmelschüttler, war mehr dem Vergnügen zugetan als seiner kleinen Familie, die er drei Jahre nach Geburt der Tochter verließ. Die zarte Mutter, vermutlich Analphabetin, wird später von der Tochter in einem Gedicht verewigt:

Winzig klein war meine Mutter

wie der Pfefferminzstrauch, das Gras.

Kaum warf sie Schatten auf die Dinge, kaum.

Die Erde liebte sie,

Weil sie ihr leicht war,

Weil sie ihr zulächelte

Im Glück wie im Leid.

Der Vater kommt in den Texten nicht vor.

Das ganz große Glück für die kleine Lucila indes war, dass sie eine große Schwester hatte, die selbst auch Lehrerin war. Sie brachte Mutter und Schwester fortan durch.

Letztere war als Kind furchtbar schüchtern, ein leichtes Opfer für die Stärkeren, was letztlich später zum berühmten Schulverweis führte.

In seiner ganzen Not fing das Mädchen früh an, Gedichte zu schreiben und diese auch bei Wettbewerben einzureichen und an Zeitungen zu schicken. Sie entdeckte auch die Bibel für sich, entwickelte früh eine Abneigung gegen den spanischen Katholizismus, behauptete wohl auch ab und zu, von Juden abzustammen, so gut gefielen ihr besonders die Texte von König David. Sie bildete sich mit Hilfe der Schwester autodidaktisch fort - und konnte neigungsgemäß und weil einem jungen Mädchen in ihrer Situation nichts anderes übrig blieb - als Hilfslehrerin tätig werden.

1906 lernte sie einen jungen Eisenbahnangestellten kennen, der sich im Verlauf der Beziehung a) mit jemand anderem verlobte und sich b) im November 1909 das Leben nahm, angeblich ihre Briefe in der Brusttasche. Was sie veranlasste, ihre - nach Expertenmeinung - besten und wichtigsten Gedichte zu schreiben: Desolación.

Ob das Liebesdrama, so wie es erzählt wird, auch wirklich stattfand - oder vielleicht nur ein Phantasiegebilde war, lässt sich derzeit nicht klären. Auf jeden Fall ist es ein Wunder: Eine banale Tragödie unter Jugendlichen schafft es, in Weltliteratur gegossen zu werden. 1914 nahm sie an einem Literaturwettbewerb teil, reichte die "Sonette des Todes ein" und gewann den ersten Preis. Allerdings war sie viel zu schüchtern, um diesen auch in Empfang zu nehmen. 1922 dann ließ sie die Texte in New York drucken - und festigte damit ihren Ruf auf dem gesamten Kontinent.


Quellen: 

Kleine Geschichte der Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Gabriela Mistral von Dr. Kjell Strömberg, ehemaliger Kulturattaché an der schwedischen Botschaft in Paris. Verleihungsrede von Hjalmar Gullberg an Gabriela Mistral am 10. Dezember 1945 und  Leben und Werk von Gabriela Mistral von Jorge Edwards, Sekretär an der chilenischen Botschaft in Paris. Alle aus der Sammlung "Nobelpreis für Literatur" der Schwedischen Akademie und der Nobelstiftung, 1945. Hier ist auch das zitierte Gedicht entnommen.

https://www.diepresse.com/5534955/darf-man-einen-flughafen-nach-einem-vergewaltiger-benennen

https://theculturetrip.com/south-america/chile/articles/making-poetry-out-of-politics-gabriela-mistral-and-pablo-neruda/

https://www.elindependiente.com/tendencias/cultura/2019/04/07/gabriela-mistral-de-maestra-de-neruda-a-disputarle-el-nombre-del-aeropuerto-de-chile/ 

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