Marco Balzano | Das Leben wartet nicht

03.07.2021

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Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug. Original: L'ultimo arrivato. Diogenes, Zürich 2017. 300 Seiten, 12 Euro. 
ISBN 978 3 257 24428 1.

In allen größeren Städten Europas kann man sie sehen: ältere Männer, die draußen auf Bänken sitzen, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet. Viele von ihnen sind zugewandert, manche von ihnen nie angekommen. Gedankenverloren lassen sie Gebetsketten durch ihre Hände gleiten oder halten sich an ihren Zigaretten fest. 

Ninetto, in Mailand auf einer Bank sitzend, ist auch so ein Zugewanderter. Er ist aber nicht in ein neues Land eingewandert, er kam als Binnenflüchtling. Im eigenen Land den Ort gewechselt auf der Flucht vor Arbeitslosigkeit und Armut.

Als er losging, war er neun Jahre alt. Ganz ohne Eltern, nur in Begleitung eines Freundes der Familie, hat er sich auf den Weg gemacht, als einer von vielen Jungs, von Sizilien nach Norditalien, hin zu den Städten des Industriedreiecks Turin - Mailand - Genua.

Dabei hatte in der Grundschule alles noch ganz gut angefangen. Denn dort gab es den Lehrer Signor Vinzenco Di Cosimo, an dem der kleine Ninetto mehr hing als am eigenen Vater.  Der Lehrer rezitierte Gedichte - und wollte ihren Sinn gar nicht erst ergründen lassen.

"Mit dem Sinn beschäftigen wir uns später!" wiederholte er, wenn wir kleinen Bengel verständnislose Gesichter machten.

Wie wahr dieser Satz noch werden soll, erfährt die Leserin erst später.

Zunächst einmal  konnte Ninetto dem Signor auch von dem Schrecklichen erzählen, das sein kleines Leben für immer verändern sollte:

Der Lehrer war der Erste, dem ich vom Schlaganfall meiner Mutter erzählte. An jenem Morgen hatte ich die ganze Zeit geschwiegen und ihn nicht mal am Gleisübergang am Arm genommen. Als er mich endlich fragend ansah, erzählte ich ihm, dass sie mitten in der Nacht umgefallen war und dass sich auf ihrer Schläfe ein schwarzer Blutfleck gebildet hatte, der nicht mehr wegging.

Dieses Schreckliche führte den Jungen schließlich in ein Arbeiterghetto, den sogenannten Bienenstock, in eine Heirat mit 15 Jahren, in eine Fabrik mit Fließband - und schließlich in den Knast. Denn er sollte genau an dem Satz scheitern, vor dem ein gewisser Schanschak (sic!) Russo die Grundschulkinder in San Cono, Sizilien, schon gewarnt hatte: 

Das gehört mir.

Ninetto, wollte  als Kind eigentlich Künstler werden.  Ein Lied hatte er da bereits geschrieben. Noch im Alter kann er sich an die ersten Zeilen erinnern:

Eine Sardelle, das halt ich nicht aus.

Ich hau ab nach Mailand, ich muss hier raus.

Später wird er feststellen, dass eine tägliche Sardine auf Kastenbrot in San Cono besser schmecken kann als ein in Milch getunkter Keks im Bienenstock.

Nur die Kindheit wird für ihn von Wert sein, weil damals das Leben noch Versprechungen machte:  Es gibt keine Gesellschaft mit Kasernen, Krankenhäusern, Schulen, Gerichten, Gefängnissen und Banken.  Ein Kind ist frei:

Gespielt wurde im Freien, auch wenn es jedes Mal mit Raufereien endete, aber die machten auch Spaß. Wir waren immer schmutzig von der Straße. Und im Sommer verwilderten wir völlig. Wir lebten barfuß und in der Unterhose, mit Strohhalmen in den Haaren, und die Schultern schälten sich von der Sonne.

Der Rest des Lebens ist dann blitzschnell erzählt:

(...) zweiunddreißig Jahre das ewiggleiche Leben. So ewiggleich, dass es mir Angst macht. Oder, besser gesagt, mich ankotzt. Vier Jahre am Fließband ... das bin ich. Ein Roboter, kein Mensch. Und das Leben geht unterdessen weiter, es wartet nicht auf dich, da ist die Rate für die Hypothek, pünktlich wie der Wecker, dann der Urlaub (...) immer bei unseren Alten in Kalabrien und in San Cono (...).

Guckt das Kind noch erwartungsvoll in die Zukunft, guckt der alt gewordene Mensch sehnsüchtig auf die Kindheit zurück, ohne sie je wiederzufinden.

Ninetto auf seiner Bank in Mailand ist total verstummt. Alles frisst er in sich hinein. Er zweifelt an sich, am Leben, an der Liebe. Da ist es wie ein Wunder, als eine Frau mit prekärer Arbeitssituation und ein kleines Mädchen endlich dafür sorgen, dass die Zentnerbrocken doch noch von seiner Seele fallen können.

Marco Balzano schreibt im Nachwort zu seinem Roman, auch mit Blick auf die schlechte Situation der kindlichen Flüchtlinge unserer Tage, dass er seine Landsleute erinnern will, dass in Italien das Phänomen der Kinderemigration in den Jahren 1959 bis 1962 noch einmal heftig zunahm. Diese Kinder sind heute erwachsen, teilweise schuften sie noch in den Fabriken. Vielfach interessiert sich niemand für ihre Geschichten.

Wer den zu Herzen gehenden Roman gelesen hat, der von etwa 15 solcher Biographien gespeist ist, wird zukünftig vielleicht ein freundliches Lächeln, einen lieben Gruß überhaben für einen dieser Männer, die ihren Blick in weite Fernen gerichtet haben.

Auf jeden Fall lesenswert! 5 gut gepolsterte Sitzbänke vergebe ich für diesen Roman, der ganz ohne Helden auskommt.


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