Marco Balzano: Ich bleibe hier

24.06.2020

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Original: Resto qui. Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug

erschienen bei Diogenes

 am 24. Juni 2020 

Hardcover Leinen

288 Seiten 
978-3-257-07121-4 
€ (D) 22.00 / sFr 30.00* / € (A) 22.70 
* unverb. Preisempfehlung 

Meine Digitalausgabe habe ich über die Plattform NetGalley.DE erhalten

Eine Südtirolerin notiert ihre Geschichte: Trina ist Witwe. Sie lebt in einer 2-Zimmer-Wohnung. Auf den Grabstein ihres Mannes hat sie nichts eingravieren lassen. Die Worte, die sie notiert, richtet sie an Marica, ihre ferne Tochter. Trina hatte sie bereits als Kind verloren - nicht an den Tod, sondern an das Deutsche Reich. Auch ihren Sohn, Michael, hatte sie an den "Führer" verloren.

Trina, die Unzugängliche, war schon immer anders als die Leute in ihrem Dorf, die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Sie wollte eigentlich keinen Mann heiraten, vielleicht lieber eine Frau. 

Trina glaubte, die Wörter könnten sie retten. So ging sie zur Schule, so studierte sie, so wurde sie Deutschlehrerin - und heiratete dann doch Erich, das Waisenkind mit dem kleinsten Grundstück im ganzen Dorf.

Mussolini, der Duce, hatte sich ungebeten bereits zum Schulabschluss in Trinas Leben gebohrt und seine Richtung verändert. Annexion.

Im Frühjahr 1923 bereitete ich mich auf die Reifeprüfung vor. Mussolini hatte extra mein Examen abgewartet, um die Schule umzukrempeln. (...) Mussolini ließ Straßen, Bäche und Berge umtaufen (...) Sie haben unsere Namen italienisiert (...).

Um nach dem Examen überhaupt als Lehrerin arbeiten zu können, musste sie Italienischunterricht nehmen. Niemand im Vinschgau sprach diese Sprache, doch ging die Rechnung nicht auf:

Um bloß nicht uns nehmen zu müssen, stellten sie lieber halbe Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien ein. Ob die Tiroler Kinder etwas lernten, kümmerte den Duce herzlich wenig.

So erinnert sich Trina voller Bitterkeit.

Deutsch zu sprechen war nun bei Strafe verboten. Deutschunterricht nur heimlich in den von der Kirche eingerichteten "Katakombenschulen" möglich. So wurde Trina eine klandestine, eine konspirative Lehrerin. Wer erwischt wurde, zahlte einen hohen Preis, bis hin zur Verbannung.

Doch für Trina und ihre Familie sollte es noch viel ärger kommen. Südtirol war wohl der einzige Ort auf der Welt, an dem der Nationalsozialismus den Faschismus ablöste. Nach dem Sturz Mussolinis übernahmen die Nazis nahtlos - und teilten Südtirol in deutsche "Optanten" und italienische "Dableiber" auf. Trina und ihr Mann wehrten sich bis aufs Blut gegen beide Optionen. Weder wollten sie zweitklassige Italiener sein, noch ins deutsche Nazireich aufbrechen müssen.

Du musst auf die Augen schießen. Und genau so musst du es bei den Deutschen machen. Und auch bei den Italienern. Wenn du überleben willst, musst du immer auf die Augen schießen.

Die Figur der Trina ist fiktiv, doch die Geschichte Südtirols, die der Mailänder Autor Marco Balzano in Ich bleibe hier erzählt, ist echt.

Der Ort, aus dem Trina stammt, hat traurige Berühmtheit erlangt, nicht nur wegen des Doppelfaschismus. Es ist das Dorf Graun im Vinschgau, dessen 600 Jahre alter Kirchturm bis heute so eigenartig auf dem Wasser des Reschensees zu schwimmen scheint. Das Postkartenmotiv Südtirols schlechthin, dort im Dreiländereck zwischen Österreich, Italien und der Schweiz.

Die Pläne, einen Stausee zu bauen, reichten weit in den Beginn des Faschismus in Italien und damit in Südtirol zurück. 1939 dann hatte der Elektrokonzern Montecatini einen Antrag eingereicht, den Reschen- und den Grauner See um 22 Meter zu stauen. 22 Meter, das bedeutete Flutung der Orte Reschen und Graun. Hatte der Zweite Weltkrieg das Projekt noch verzögert, wurde 1947 weitergebaut - 1950 wurden dann die Schleusen geschlossen. 677 Hektar Grund und Boden wurden überflutet, beinahe 150 Familien praktisch enteignet, so gering fiel die Entschädigung aus. Die Menschen konnten auswandern oder in ein Barackenlager umziehen, das so spät fertig wurde, dass manch einem nur eine Woche blieb, um das Eigentum zu retten. Es war wie ein weiterer Krieg, mitten im Frieden. Die Häuser, die Kirche wurden gesprengt. Nur der Kirchturm blieb stehen - aus Gründen des Denkmalschutzes.

Nichts und niemand konnte diesen Wahnwitz aufhalten, nicht einmal der Papst in Rom.

Der Roman, der auch die Geschichte des Stausees erzählt, ist eine Warnung. Eine Warnung vor dem Irrsinn von Krieg, Nationalismus und staatlicher Willkür. Er wendet sich gegen Mauern und Grenzen, vor allem in den Köpfen, und er feiert das Wort als scharfe Waffe.

Die Region um den Reschensee hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden und längst begonnen, mit dem Turm im See zu werben. 

Wer sich in diesem Sommer mutig nach Südtirol aufmacht, der soll sich nicht wundern, wenn er dort auf lauter Pensionen trifft, die "Corona" heißen. Das ist kein böser Spaß, sondern einfach der romanische Name des Ortes Graun. Er bedeutet "runder Felskopf".

Wer also in den Sommerferien dort hinfährt, am gefluteten Kirchturm vorbei, sollte unbedingt diesen  zu Herzen gehenden Roman mitnehmen. Es handelt sich um eine Reiselektüre der besondereren Art, die natürlich aber auch an allen anderen Orten wirken kann, wo aufrechter Widerstand nötig ist.

Bitte lesen!


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