#21für21:3 Vea Kaiser | Blasmusikpop. Oder wie die Wissenschaft in die Berge kam

11.03.2021

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Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. ISBN eBook 978-3-462-30609. Knapp 10 Euro


Der Verlag hat mittlerweile die 6. Auflage herausgebracht vom komisch-grotesken Roman über das "Bergbarbarendorf" St. Peter am Anger in den fiktiven Sporzer Alpen. Das ist dort, wo bis auf das Radio alles mit gut 30 Jahren Verspätung ankommt. Sogar Rafting, Ökotouren,Wellness und internationaler Fußball. AAdW halt.

Als ich den Roman jetzt las, hatte er trotz allem keinerlei Moos angesetzt seit seinem Erscheinen im Sommer 2012. Damals hatte er eine Studentin zum Shootingstar der österreichischen Autor*innenszene gemacht.

Anlässlich des Weltfrauentags sollte ich auf einer Verlagswebsite meine Lieblingsautorin nennen. Sehr spontan habe ich dann "Vea Kaiser" geantwortet. Nicht viele fabulieren so klug und gleichzeitig unterhaltend witzig wie die junge Wienerin und bekennende Liebhaberin des Altgriechischen.

In einem Interview mit der Wochenzeitschrift  "Die Zeit" erzählt sie, wie sie im niedersächsischen Hildesheim an einem Seminar für kreatives Schreiben und den falschen Vorbildern scheiterte:

Meine Kommilitonen waren fixiert auf Schriftsteller wie Christian Kracht oder Judith Hermann. Mir hilft es mehr, mich mit griechischen Mythen auseinanderzusetzen und mir anzuschauen, wie etwa Euripides einen Konflikt konstruiert.

Ihr Erstling beginnt dann entsprechend mit den Notizbuchaufzeichnungen eines gewissen Historiographen Johannes A. Irrwein, der sich selbst als Nachfolger des "Vaters der Geschichtsschreibung", Herodot von Halikarnoss, und als Enkel eines weiteren Irrwein vorstellt. Wieviel Kaiser nun in diesem Johannes steckt, kann ich allerdings auch am Romanende nicht beantworten. Wohl aber, wieviel Großvater Johannes im Enkel Johannes steckt, nämlich vermutlich nicht so viel.

Was aber auch egal ist

St. Peter am Anger war zu klein, um sich Gedanken darüber zu machen, wer nun tatsächlich der Vater von welchem Kind war. Irgendwie waren ohnehin alle miteinander verwandt (...)

Der Großvater war ursprünglich ein berufsmäßiger Marienschnitzer. Dass er später Arzt von St. Peter am Anger werden konnte, verdankte er seinem Bandwurm. Denn dieser brachte ihn dazu, St. Peter zu verlassen, um die Welt der Wissenschaft zu erkunden. Der Roman erzählt anschaulich, wie er seine Studienberechtigungsprüfung beim Kartenspielen gewann. Das musste so kommen, denn

Es war ihm schier unbegreiflich, warum er, wenn er Arzt werden wollte seitenlange mathematische Aufgaben lösen oder lateinische Texte übersetzen können musste (...)

Aus seiner monatelangen Lektüre im Gemeindeamt von St. Peter wusste er zwar, dass in der Medizin alles mit lateinischen Wörtern ausgedrückt wurde, doch er war zugleich davon überzeugt dass es reichen müsste, diese einzelnen Wörter zu kennen, ohne lesen zu können, was irgendwelche Kaiser geschrieben hatten, die lange vor Jesu Geburt gestorben waren.

Ganz anders und doch ganz ähnlich der Enkel. Dessen Welt ist viel größer als die von St. Peter - und weit über die Romanhälfte hinaus kann er dem Bergbarbarendorf gar nicht schnell genug den Rücken kehren. Sein Herz schlägt allerdings dafür, der Welt die klassisch-europäische Bildung zu erhalten - und wie alle seine dörflichen Verwandten, lehnt er Neuerungen strikt ab: Am städtischen Gymnasium wird er Mitglied eines Clubs dreier Freunde:

Die vier trafen sich jeden Tag nach der Schule zum gemeinsamen Studium, zur Erörterung und Vertiefung des Gelernten - beschäftigten sich aber ausschließlich mit den Fächern Griechisch und Geschichte. Auch nach der Schule trugen sie Krawatte, Hauspantoffeln verabscheuten sie, sie lasen ausschließlich altgriechische Autoren und rümpften die Nase, wann immer sie an der Lenker Buchhandlung vorbei gingen und dort die Neuerscheinungen im Fenster sahen. Besonders die Gegenwartsliteratur war ihnen verhasst, da sie meinten, dort würde nur sinnentleerte Befindlichkeit und Bauchnabelschau betrieben, aber keine großen Themen abgehandelt wie in der antiken Literatur.

Die ganze Altgriechenkunde schadet ihm allerdings eher, als er, über einen üblen Lehrer stolpernd, seine Matura verhaut. Großartig zu lesen für alle, die nachts im Traum schweißgebadet immer mal wieder ihre Reifeprüfung durchmachen.

Vea Kaiser bezeichnet sich gut-österreichisch als

"G'schichtldrucka" - was soviel bedeutet wie jemand zu sein, der immerzu Geschichten zu erzählen hat, die nicht wahr sein müssen, sich aber stets gut anhören.

Und so fabuliert sie munter die "Coming-of-Age"-Geschichte vom kleinen Johannes. Wie er seinen ersten Sex verpasst, weil er mit Facebook nicht zurande kommt. Wie ihm aber seine Dorfkumpel aus der Patsche helfen:

"Des kommt hiazen auf YouTube", erklärte Peppi freudestrahlend.

"Und wie soll das die Simona sehen?"

"I posts auf ihre Pinnwand."

"Welche Pinnwand?"

"Johannes, du solltast echt amoi Facebook retschertieren", sagte Peppi vorwurfsvoll (...)

Und wie er letztlich unabsichtlich dafür sorgt, dass die Welt doch nach St. Peter einfällt, immer den MacDonalds-Schildern folgend.  Vor allem aber wie er  Patenonkel von Neubürger 498, 499 und 500 wird, die aus dem Kleindorf ein Großdorf machen.

Oder wie es Herodot sagt:

Denn viele (Orte) waren früher groß, von denen viele klein wurden. Die aber, die zu meiner Zeit groß waren, waren früher klein. Denn das menschliche Glück verbleibt, wie ich weiß, niemals im selben Zustand.

Familienroman, altgriechischer Arztroman, Gesellschaftsroman, Coming-of-Age-Roman, Satire, Groteske. Dieser 500 Seiten-Roman bietet etwas für jeden Geschmack. Deshalb gilt für alle schnürschuhbewehrten Bergfexe ebenso wie für alle Piefkes vom Nordmeer:

Lesen!


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