Willi Achten: Die wir liebten

26.04.2020

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Piper Verlag € 16,99 [D], € 16,99 [A]
Erschienen am 02.03.2020 
384 Seiten, WMEPUB EAN 978-3-492-99626-6


Ich habe das Exemplar über NetGalley.DE vom Piper Verlag bekommen.



Als ich mit dem Roman durch war, also nach dem fulminanten Showdown und dem sehr nachdenklich machenden Epilog - habe ich erstmal die Biografie von Willi Achten gegoogelt. Ich kannte den Autor vorher gar nicht. Und zu persönlich erlebt erschien mir die Atmosphäre der 70er Jahre zwischen Lottoannahmestelle (war bei uns direkt gegenüber, von zwei Schwestern betrieben) und Backstube mit Konditorei (knatterte ich mit Opa im orangenen Käfer schon um 6 Uhr früh hin, um Brötchen zu holen, bevor der Laden aufmachte), mit "Panzermeyer" (saß mit den Eltern am samstäglichen Frühschoppentisch) - als dass nicht diese "Freistatt"-ähnliche Einrichtung auch vom Autor hätte durchlebt sein müssen. Aber es gibt keinen entsprechenden Hinweis. "Die wir liebten" ist ein Roman, das Erzählte entstammt Recherchen.

Aber ich fang mal von vorne an: Der Anfang ist Idylle. Vater, Mutter, Großmutter, Großtante, zwei Brüder. Das kleine Glück der 70er Jahre an einem Tisch, unter einem Dach vereint. Es ist die Zeit von Hänschen Rosenthals "Spitze" - bürgerlich, miefig, prilblumig, grundanständig, alles Schlimme liegt hinter den Erwachsenen. Der einzige kleine Knacks ist die Demenz der Großtante, erstmal fast als Spleen vorgeführt - wie sie jeden und alles bestrickt. In den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts wird das als Guerilla-Stricken kurzfristig sogar zum Trend werden. Alle am Tisch sind dran gewöhnt und helfen der Mia, wo sie können, damit sie heile durch den Tag kommt.

Doch die Idylle bekommt weitere Risse: Der Vater verguckt sich in eine andere Frau, die Mutter findet Trost in der Flasche. Trennung. Die Jungs - auf einmal sich selbst überlassen - machen Jungsunsinn. Bis hier ist der Roman eine Art moderne Tom-Sawyer-Geschichte.

Doch die noch junge Bundesrepublik trägt schwer an ihren Altlasten. Eine Stunde Null hatte es nach den Nazi-Gräueln nicht gegeben. Wer gelehrt hatte, lehrt weiter. Wer geforscht hatte, forscht weiter. Wer geprügelt hatte, prügelt weiter. Ich selber hatte in der Orientierungsstufe einen Deutsch und Sport-Lehrer, gegen den Strafantrag gestellt werden musste, weil er einen aufmüpfigen Schüler den Schulflur entlang geprügelt hatte. Der Mann blieb im Schuldienst. Ein Turner vor dem Herrn, dieser Lehrer. Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder.  Die Nazis waren ziemlich weit vorangekommen mit der Idee, einen neuen Menschentyp zu schaffen, der sich willenlos prügelnd in den Dienst jedes barbarischen Systems stellen würde.

Edgar und Roman, die beiden Brüder aus der Familienidylle, 15 und 16 Jahre alt, bekommen das in den frühen 70ern auch noch zu spüren. Sie geraten zwischen die Fronten der Befürworter und Gegner der unmenschlichen Nazi-Machenschaften. Ihr Weg führt sie direkt in das Erziehungsheim mit dem Namen "Gnadenhof", was sich im Romanbezug ganz uneuphemistisch irgendwie nach erschossenem Pferd anhört.

Was sie dort erleben müssen, ist teilweise schwer zu ertragen, doch es entspricht ziemlich sicher der Realität in vor allem kirchlich geführten Erziehungsheimen, in denen rabenschwarze Pädagogik insbesondere die Lust der Erziehenden an Machtgefühlen befriedigt. Die Ideen von lebensunwertem Leben, moralischem Schwachsinn, dem Absprechen von Bildungsfähigkeit, was zu Zehn-Stunden-Tagen in der Anstalts-Wäscherei führte und - durch Verzicht auf Beschulung - massenhaft Ungelernte hervorbrachte, die auf Baustellen und an Fließbändern die prosperierende Bundesrepublik ein großes Stück voranbringen würden.

Weil Betroffene bis heute um ihr Recht kämpfen müssen, Entschädigungen vor allem der katholischen Kirche nur schwer abzutrotzen sind, beschämt es besonders, wenn in diesen Tagen wieder als erste Rechte auf die Plätze marschieren -  und den Alten, Kranken und sonstigen Schwachen der Gesellschaft das Recht auf Leben abspenstig machen möchten - diesmal mit vorgeblichem Blick auf die Wirtschaft und aus angeblicher Angst vor Beschneidung ihrer Freiheiten.

"Die wir liebten" kann ich, nein muss ich uneingeschränkt zur Lektüre empfehlen. Das Buch macht klar, wie wir wurden, was wir sind. Und das betrifft nicht nur uns Kinder der 70er Jahre

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