Zwei Leben retten

31.01.2020

Foto: Verlag Urachhaus

* WERBUNG wegen Rezensionsexemplar | unbezahlt | unaufgefordert *


Natürlich sind vier Wochen zu kurz, um eine Schriftstellerinnenpersönlichkeit wie Selma Lagerlöf und ihr Werk in der ganzen Tiefe auszuloten. Sie war eine Frau mit sehr modernen Gedanken, die auch heute noch Bestand haben.

Sie glaubte an sich, an ihr Talent:

Dieser Glaube war in meinem Leben so zentral wie bei anderen Frauen die Liebe und das Zuhause.* 

Sie glaubte an die weibliche Unabhängigkeit:

Wenn man absolut keine Herrschaft über sich verträgt, dann ist es doch wohl am besten, unverheiratet zu sein (...).*

Ihre Liebe zu anderen Frauen musste sie klein halten, das war der Gesellschaft geschuldet. So hat sie mit keiner der Frauen außerhalb der zahlreichen gemeinsamen Reisen zusammengelebt. Ihr eigener Wunsch wäre möglicherweise ein anderer gewesen:

Ich bin unglaublich leidenschaftlich (...) denn in meinem Inneren wohnt ein wildes Tier.*

Aber sie hatte Wichtigeres vor, so dass sie auf etwas so Schwieriges keine Kraft verschwendet hat:

Ich habe mich immer als eine komplette und harmonische Persönlichkeit betrachtet, und ob verheiratet oder unverheiratet, Wilde oder Kulturmensch, in Grönland oder in China, so hätte ich mit Sicherheit immer das Gefühl gehabt, auf eigene Kosten leben zu können und nicht auf die eines anderen (...).*

Das Wichtigste aber, was ein Mensch in seinem Leben leisten kann, ist es, einen anderen Menschen vor dem sicheren Tod zu bewahren - und auch das hat sie getan.

Hochbetagt und krank erhält sie im Jahr 1938 einen Brief von  Nelly Sachs, auch einer späteren Literaturnobelpreisträgerin:


26. November 1938

Liebe, liebe sehr verehrte Selma Lagerlöf!

Anbei sende ich Ihnen meine Bibellieder zu und lege sie an Ihr Herz.

Es sind nun fast 20 Jahre her, seit ich Ihnen das erste Mal schrieb und mein erstes Buch "Erzählungen und Legenden" Ihnen sandte.

Immer wenn im Laufe der Jahre ein Gruß von Ihnen kam, war er ein Fest für meine Seele; immer wenn ich in Ihre strahlend schöne Dichtung untertauchte, genas meine Seele, war sie auch noch so betrübt.

Wie man etwas ganz Hohes nur herzlicher lieben kann, so liebe ich Sie.

Darum wage ich nun die zitternde Bitte auszusprechen: Kann ich mit meiner Mutter nach Schweden kommen, um auszuruhen an dem gütigsten Herzen?

Für die allergeringste Lebensmöglichkeit würde ich danken mit jeder Faser meines Daseins.

Verzeihen Sie, es ist mir während ich dies schreibe, als ob ich mein Schicksal in Ihre Hände legen müsste; ich küsse diese mit Tränen

Immer Ihre Nelly Sachs

Auf der sehr informativen und schön gestalteten Website "Künste im Exil", wo unter "Nelly Sachs" auch das Faksimile des Briefes zu sehen ist

https://kuenste-im-exil.de/KIE/Web/DE/Home/home.html 

ist dazu folgendes zu lesen:

Zu ihrem 15. Geburtstag hatte die spätere Dichterin Nelly Sachs den Roman Gösta Berling der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf geschenkt bekommen. Die Lektüre beeindruckte sie nachhaltig: Ihre erste eigene Veröffentlichung, Legenden und Erzählungen, die fünfzehn Jahre später erschien, ist noch erkennbar von der Prosa Lagerlöfs inspiriert. Sachs schickte das Buch 1921 an ihr bewundertes Vorbild und erhielt eine Postkarte zurück: "Herzlichen Dank für das schöne Buch! Hätte es selbst nicht besser tun können."

Zwischen den beiden Frauen entspann sich in der Folgezeit ein Briefwechsel, der um ihre literarische Produktion kreiste. Erst unter dem Eindruck der Reichspogromnacht am 9. November 1938 äußerte Sachs eine persönliche Bitte: Sie wollte Deutschland mit ihrer Mutter verlassen, doch für die nötigen Papiere brauchte sie Unterstützung aus dem Ausland. In dem Brief an die über 80-jährige Kollegin kommen ihre Verzweiflung und die tiefe Verehrung für die Adressatin deutlich zum Ausdruck. Zunächst erhielt sie keine Antwort.

Dann sprach ihre Freundin Gudrun Dähnert im Juni 1939 persönlich bei der kranken Schriftstellerin vor und erhielt ein kurzes handschriftliches Empfehlungsschreiben.

Es dauerte fast noch ein weiteres Jahr, bis alle nötigen Unterlagen beisammen waren. Nelly Sachs und ihre Mutter kamen im Mai 1940 in Stockholm an. 

Selma Lagerlöf war zwei Monate zuvor verstorben.

* Alle Zitate und Hintergrundinformationen entstammen meinem Rezensionsexemplar Selma Lagerlöf: Liebe Sophie Liebe Valborg. Eine Dreiecksgeschichte in Briefen. Herausgegeben und kommentiert von Holger Wolandt. Aus dem Schwedischen übersetzt von Lotta Rüegger und Holger Wolandt. Stuttgart, Verlag Urachhaus, 2016.

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